Eröffnungsansprache zum Literaturfestival Odessa, 25. September 2019

Trauer und Hoffnung
wovon wir erzählen

"Wie geht's?" fragte die Trauer die Hoffnung.
"Ich bin etwas traurig", sagte die Hoffnung.
"Hoffentlich", sagte die Trauer.

Ich grüsse alle, die hier zusammengekommen sind, um in diesen Tagen vorzulesen, zuzuhören, zu diskutieren, nachzudenken und zu träumen.
Die Literatur ist ein grosses Haus, es hat mehr als eine Türe, es hat viele verschiedene Räume, es hat Kammern und Säle, es hat Keller und Dachböden, und es hat viele Fenster, durch die man einen Ausschnitt aus der Welt sieht, wenn sie offen sind. Sind in einem Zimmer die Läden geschlossen, ist man mit sich selbst zusammen, eine Lampe lädt vielleicht zum Lesen ein, und wenn auf einmal das Licht ausgeht, sitzt man im Dunkeln und spürt seinen eigenen Herzschlag.

Es gibt Räume, in denen die Trauer zu Hause ist, die Trauer über das, was uns nicht gelingt im Leben, die Trauer über die verlorene Liebe, über die verlorene Jugend, über die verlorene Zeit, über das verlorene Lachen, die Trauer über den Tod geliebter Menschen. Michael Krüger hat dazu das kurze Gedicht geschrieben:

Das 11. Gebot

Du sollst nicht sterben.

Wenn es still ist in diesen Räumen, weil man sich eine Träne abwischen muss, wenn Larissa den toten Dr.Schiwago erblickt, hört man aus anderen, nahe gelegenen Räumen Gelächter, denn dort ist die Satire zu Hause, der Humor, der die üblen Verhältnisse dadurch bestraft, dass er sie lächerlich macht, der die Denkmäler aus der Froschperspektive ansieht, und die Heldentaten im Krieg mit den Augen des braven Soldaten Schwejk, der nur überleben will, und im Gelächter über die Komik schwingt die Einsicht mit, dass man den Tragödien des Lebens nicht beikommt. Deshalb stört das Gelächter auch die Trauernden nicht, denn Humor ist Trauerarbeit.

 

Dazu eines meiner Märchen:

Die Kreide und der Schwamm

Eine Kreide begann langsam einen Satz an die Wandtafel zu schreiben:
„Etwas vom Wichtigsten auf der Welt ist - „
„Na?“ sagte der Schwamm, der sich tropfend näherte.
„ - der Schwamm“ schrieb die Kreide schnell.
„Na also“, sagte der Schwamm und liess sich zufrieden in seine Schale unter der Tafel sinken.

Ja, es werden Märchen erzählt im Haus der Literatur, alte und neue, denn wir brauchen mutige Prinzen, dritte Söhne und verzauberte Prinzessinnen, um uns unsere Hoffnungen zu erhalten, dass Dornröschen nach 100 Jahren Schlaf wachgeküsst wird, wir brauchen Herren der Ringe, die für Gerechtigkeit sorgen,  und die Gewissheit, dass es im Bahnhof King's Cross in London ein Gleis 9 3/4 gibt, von dem aus der Zug in ein Zauberschloss führt.

Wir brauchen die Phantasie.
Sie bringt uns in Welten, in denen wir nie waren, wir müssen uns nur ins Haus der Literatur setzen und sind schon als Walfänger auf den Weltmeeren mit Captain Ahab unterwegs, sind in Sizilien beim Gattopardo zu Gast oder begegnen in Moskau dem Teufel.
Im schlimmeren Fall allerdings, und das passiert in den Kellerräumen des Hauses, finden wir uns in einem Konzentrationslager wieder, in einem Schützengraben oder in Kafkas Strafkolonie. Denn ohne die Grausamkeit des Menschen wäre das Haus der Literatur nicht vollständig, und wie es zur Entfesselung der Grausamkeit kommt, hat Kafka einmal gesagt, als er sich über den ersten Weltkrieg äusserte:
"Dieser Krieg ist aus einem furchtbaren Mangel an Phantasie entstanden."

Die Phantasie ist die Schutzpatronin des Hauses der Literatur, wir Schreibenden rufen sie an, wenn uns nichts einfällt, und wer sich gut mit ihr stellt, bringt Erstaunliches zustande. Karl May war nie in Amerika, aber trotzdem glauben wir ihm, dass es Winnetou und Old Shatterhand gegeben hat. Und eigentlich ist jeder historische Roman eine Frechheit, denn niemand von uns war je in der Vergangenheit.

Das Haus der Literatur ist voll von Reiseführern in die Vergangenheit, das Haus der Literatur bietet überhaupt die billligste Art zu reisen an. Ich war sehr gespannt auf meinen ersten Besuch in Odessa, obwohl ich schon einmal da war, vor 100 Jahren. Konstantin Paustowski hat mich mitgenommen, in seinem Buch "Die Zeit der grossen Erwartungen", und ich habe mit ihm in einer ehemaligen psychiatrischen Anstalt an der Tschernomorskaja-Strasse gewohnt, habe Firinka gegessen und bin mit ihm in Arkadij Holz stehlen gegangen, damit er seinen Ofen heizen konnte. Später begleitete ich ihn im Sommer zum Kowalewskij-Turm, wo er sich in einem leerstehenden Sommerhäuschen einrichtete. Eine kleine Passage aus diesem Gang ist mir hängen geblieben:

"Ich brauchte mich nur zu bücken, einen weissen Stein von der Landstrasse aufzulesen und den Staub von ihm fortzublasen, um, ohne auch nur hinzusehen, sagen zu können, dass es ein von der Mittagsglut erhitzter körniger Strandkiesel war, und traurig zu sein, dass man das Leben dieses Steins, das viele Jahrtausende währen mochte, nicht beschreiben konnte."

Als ich das las, dachte ich, Konstantin, grosser Meister der Lebensschilderungen, wieso sollst du das Leben eines Steins nicht beschreiben können, nicht traurig sein deswegen, ich mache das für dich, setzte mich hin und schrieb eine Erzählung mit dem Titel "Der Stein", in der ich die Biografie eines Steins aufzeichnete, von der Entstehung der Erde bis zum Moment, da er in einer Demonstration gegen einen Polizisten geworfen wird und statt dessen ein Mädchen trifft. Sie steht in meinem Band "President", der von Viatscheslav Kuprijanov ins Russische übersetzt wurde.

Wir sind zwar alle Konkurrenten, die einander argwöhnisch beobachten - wer alles hat schon über Flüchtlinge und Migration geschrieben, wer über die künstliche Intelligenz, wer über die Klimakatastrophe? - aber wir können auch grosszügig sein. Goethe hat sich auf einer Schweizer Reise intensiv mit der Sage  von Wilhelm Tell beschäftigt und hat den Stoff zuletzt Schiller überlassen, als er merkte, dass er zu diesem wohl besser passte, und Paustowskij hat mir seinen Stein übergeben.

Wir regen einander an, wir reichen uns die Hand, auch über 100 Jahre hinweg, wir, die wir im Haus der Literatur arbeiten. Wir rufen einander Gedichte zu aus allen Sprachen der Welt, und stecken sie einem Kurier in die Tasche, einer Übersetzerin, die es von einem Raum in den andern bringt, damit es dort ebenfalls verstanden wird.
Ich überbringe Ihnen ein solches Gedicht, an das ich erinnert wurde, als der junge Präsident dieses Landes in seiner Antrittsrede den schönen Satz sagte, jeder sei Präsident seines Landes.
Es stammt von Dora Koster, einer Schweizer Autorin, die ihr Leben als Prostituierte verdienen musste und die vor zwei Jahren verstorben ist.

Ich bin mein eigener Präsident
mein eigener Wurm
mein eigenes Nichts
die eigene Ferne
die eigens alles verändern kann
wenn es von Nöten ist
ich bin mein eigenes Staunen
über die vielen Möglichkeiten
mein eigenes Meer
in dem ich nach Korallen suche

Ganz so einfach ist es allerdings nicht mit dem Präsidium für jeden Menschen, sonst müsste der PEN-Club nicht jedes Jahr einen "writers in prison"-Tag veranstalten. Solschenizyn hat es einmal so formuliert: "Ein grosser Schriftsteller ist doch so etwas wie eine zweite Regierung. Darum hat auch keine Regierung je die grossen Schriftsteller geliebt, sondern nur die kleinen."

 

Ich möchte Ihnen noch eine meiner Fabeln erzählen

Der Pressluftbohrer und das Ei

Ein Pressluftbohrer und ein Ei stritten sich einmal, wer von ihnen der stärkere sei.
„Natürlich ich!“ renommierte der Pressluftbohrer.
„Ha“, krächzte das Ei, „ich bin viel stärker!“
Der Pressluftbohrer zuckte überlegen die Achseln: „Wie du meinst. Ich bohre dich in tausend Stücke.“
„Und ich schlage dir den Schädel ein!“ quietschte das Ei.
„Ei, du dummes Ding“, sagte der Pressluftbohrer und schüttelte den Kopf, „wie soll das zugehen?“
„Wirst schon sehen“, prahlte das Ei und warf sich in die Brust.
„Ich brauche nur den kleinen Finger zu rühren“, lachte der Pressluftbohrer.
„Ich mache dich mit meinem Dotter zu Brei!“ krähte das Ei und trat kampflustig von einem Bein aufs andere.
Da ward es dem Pressluftbohrer zu dumm, und er bohrte, wie er schon zu Beginn betont hatte, das Ei in tausend Stücke.

Tja. Fertig. - Ist etwas nicht in Ordnung? Haben Sie gemeint, das Ei gewinne? So naiv! Das ist eine Geschichte aus dem Leben..

Zurück zum Haus der Literatur.
Trotz all des bisher Gesagten: Es ist nicht ganz klar, was dieses Haus soll. Klar ist aber, dass es zugänglich sein soll für alle, die neugierig darauf sind, oder wie es der österreichische Autor Ernst Jandl einmal formulierte:
"Mein Schreibtisch ist gedeckt für alle."

Wann immer der Zugang zu diesem Haus und seinen Schreibtischen erschwert wird, wann immer Verbotstafeln aufgestellt werden, sei es für Bücher oder für die Einfuhr von Büchern, können wir sicher sein, dass es kein gutes Zeichen ist. Denn das Haus der Literatur, auch das ist klar, ist ein Haus der Freiheit. Was immer von uns Schreibenden ausgedacht und ausgeheckt wird, was immer wir in unseren Gehirnen ausbrüten und in Sprache verwandeln, was immer durch unsere Synapsen fliesst und als Gedicht, Geschichte, Theaterstück, Erzählung oder Roman herauskommt, sollte Platz haben in diesem Haus.

In diesem Haus dürfen alle Fragen gestellt werden, nach der Zukunft, nach der Gegenwart, nach der Vergangenheit, das Haus der Literatur ist sogar eher ein Haus der Fragen als ein Haus der Antworten. Eine Antwort allerdings gibt es immer, das ist das Schreiben selbst. Was sagten die Dadaisten, die sich während des ersten Weltkriegs in Zürich zusammenfanden und mit ihren schrillen Versen das Publikum verblüfften und verstörten, über ihre Kunst? "Das ist unsere Antwort auf den Geschützdonner in Europa". Jedes Gedicht ist eine Antwort auf die Realität, sei es auf ihre Abscheulichkeit oder auf ihre Schönheit.

Wir wissen nicht genau, wo das Haus der Literatur steht, ich stelle es mir leicht erhöht am Rand der Welt vor, als Grenzstation zur Gegenwelt. Die Gegenwelt, die in der Literatur geschildert wird, habe keine Wirkung auf die Welt, in der wir leben, wird oft gesagt. Wenn wir in Interviews gefragt werden, ob wir glauben, dass wir mit unsern Büchern die Welt verändern können, gibt es nur eine Antwort: "Nein, natürlich nicht!" - doch dann kommt noch ein kleines "aber".
Der Roman "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe führte dazu, dass in Amerika die Sklaverei abgeschafft wurde. Leider bedurfte es dazu eines Bürgerkriegs. Als Abraham Lincoln Frau Beecher Stowe empfing, soll er sie mit den Worten begrüsst haben: "So you are the little lady that started the big war." Es dürfte kaum die Absicht der Autorin gewesen sein, zu einem Krieg anzustiften, Literatur ist das Gegenteil von Krieg.
Und das schmale Buch "Erinnerung an Solferino", in dem Henri Dunant das Schlachtfeld von Solferino beschrieb, führte zur Gründung des "Roten Kreuzes", dem Versuch, die Leiden des Krieges zu mildern.

Aber wichtiger als die ganz grosse Wirkung ist die Wirkung, die ein Buch auf jeden und jede von uns hat, die es lesen. Die Reise in die andere Welt hilft uns, unsere eigene Welt mit anderen Augen anzusehen.   

Einer meiner liebsten Räume im Haus der Literatur gehört den Kindern. Alle die Fragen, welche die Erwachsenen an die Literatur stellen, nach ihrer Funktion und der Relevanz in der Gesellschaft, stellen die Kinder nicht. Für sie gehören Geschichten zu den Grundnahrungsmitteln, und ihr Lachen, wenn ihnen eine Geschichte gefällt, gehört zu meinen Lieblingsgeräuschen. Sie sind unsere Verbündeten, denn alle Kinder sind Dichter.

Immer wieder bekomme ich von Kindern, die meine Gedichte und Geschichten gelesen haben, selbergemachte Gedichte und Geschichten, und ich staune über ihre Kreativität und Fabulierlust.
Ich lese Ihnen zwei Geschichten, die von Kindern geschrieben wurden. Sie erzählen von Trauer und Hoffnung, oder von Krieg und Frieden.

 

Zwei Beine

Es waren zwei Beine. Sie gingen immer zusammen. Sie waren gute Freunde und sagten, dass sie sich nie trennen wollten. Sie gingen immer zusammen spazieren. Aber wenn sie spazierten, ging das rechte Bein immer zuerst. Das linke Bein fand, dass dies nicht richtig sei, aber es sagte nichts. Eines Tages aber war es für das linke Bein genug. Und es sagte: "Das ist nicht recht, dass du immer zuerst gehst." Und sie stritten lange, und plötzlich sagte das linke Bein: "Ich gehe nicht mehr mit dir spazieren!" Sie trennten sich und gingen nie mehr zusammen spazieren.

Stellen Sie sich vor, was das heisst, wenn sich das linke und das rechte Bein trennen. Was für ein Bild für die Lösung eines Konflikts!
Dabei wäre es so einfach, wie die nächste Geschichte zeigt.

 

Die Katze und die Maus  

In einem Haus lebte einmal eine Katze. Sie hatte viele Probleme, weil sie keine Maus erwischen konnte. Jeden Tag machte sie einen neuen Plan, aber sie hatte nie Erfolg. Die Maus war sehr intelligent. Die Katze stellte ihr Fallen. Aber die Maus bemerkte sie und machte, dass die Katze selber in die Falle geriet. An einem Abend dachte die Katze, dass sie mit der Maus Freundschaft schliessen müsste. Am nächsten Morgen fragte sie die Maus. Die Maus sagte ja. Und immer noch leben sie friedlich zusammen.

Wie viele von uns erzählen von der Tragödie der zwei Beine, die sich trennen, und wenn sie es tun, wenn sie es tun müssen, hoffen sie insgeheim, dazu beizutragen, dass sich die Tragödie nicht wiederholt. Jedes Buch, das vom Krieg erzählt, tut dies aus dem dringenden Wunsch nach Frieden, von Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" bis zu den "Grauen Bienen" von Andrej Kurkow.

Ich wünsche uns allen anregende Tage und schliesse mit dem zweiten Teil meines Märchens.

 

Die Kreide

Als man das Schulhaus umbaute, wurden die Wandtafel, der Schwamm und die Kreide in einen Abfallcontainer geworfen.
Dabei fiel die Kreide vom Rand des Containers hinunter und brach entzwei.
Mit ihrem vorderen Stück begann sie langsam auf die Strasse zu schreiben: „Das Wichtigste im Leben ist – „
„Na?“ rief der Schwamm von oben.
„ – die Freude“ schrieb die Kreide, und setzte noch ein Ausrufezeichen dahinter, und noch eins, und noch eins, und noch eins.